Was ist „Roe versus Wade“?
„Roe versus Wade“ (RvW) ist eine Grundsatzentscheidung des höchsten US-Gerichts (Supreme Court) aus dem Jahr 1973 zum Abtreibungsrecht. Bis dahin durften die US-Bundesstaaten eigene Gesetze zur Abtreibungspraxis erlassen, wobei die meisten ein weitgehendes Verbot aufstellten.
RvW zufolge sollte dies künftig unzulässig sein, da es ein verfassungsmäßiges Recht gebe, über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden, und zwar wenigstens bis zur „viability“, also der Lebensfähigkeit des Kindes außerhalb des Mutterleibes. Das bedeutete im Jahr 1973 die 28. Schwangerschaftswoche (28 Wochen nach dem ersten Tag der letzten Periode). Aufgrund medizinischer Fortschritte wurde die Frist zwar verkürzt, bedeutet aber immer noch etwa die 22./23. Schwangerschaftswoche.
Durch diese Gerichtsentscheidung wurde Abtreibung in den USA auf einen Schlag und ohne vorherige Debatten und Entscheidungen im Kongress vollständig legal, sogar bis in einen Entwicklungszeitraum hinein, in dem Kinder eine Abtreibung manchmal noch überleben.
Diese Entscheidung wurde im Jahr 1991 in Teilen durch „Planned Parenthood versus Casey“ (PPvCasey) nochmals modifiziert, wobei die „viability“-Grenze, also die Frage der Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibes, entscheidend blieb und ferner festgelegt wurde, dass gesetzliche Regulierungen keine „undue burden“ – also keine unzumutbaren Belastungen – beim Zugang zu einer Abtreibung zur Folge haben dürften.
Was ist nun passiert?
Vor kurzem wurde der Entwurf einer anstehenden Supreme-Court-Entscheidung in den USA bezüglich eines Abtreibungsverbotes in Mississippi ab der 15. Schwangerschaftswoche (mit medizinischer Indikation danach) an die Presse geleakt:
Dieser Entwurf umfasst 98 Seiten. „Justice Alito“, einer der Richter am höchsten US-Gericht, und seine Mitarbeiter würden nicht auf 98 Seiten die „opinion of the Court“ zu Papier bringen, wenn sie nicht davon ausgehen würden, dass eine Mehrheit der anderen Richter im Prinzip hinter der geplanten Entscheidung stünde.
Somit entspricht dieser Entwurf inhaltlich mit hoher Wahrscheinlichkeit der Entscheidung, die dann in ein bis zwei Monaten verkündet werden wird.
Es ist aber für „pro-choicer“ (Abtreibungsbefürworter) fast so, also ob der Himmel einstürzen würde bzw. der Weltuntergang bevorstünde, wenn es im Entwurf heißt:
„Die Verfassung verbietet es den Bürgern der einzelnen Bundesstaaten nicht, Abtreibungen zu regeln oder zu verbieten. Roe und Casey haben sich diese Befugnis angemaßt. Wir heben diese Entscheidungen nun auf und geben diese Befugnis an die Menschen und ihre gewählten Vertreter zurück. ... Es ist so beschlossen.“
Damit bliebe nicht nur die 15-Wochen-Grenze im Staat Mississippi in Kraft. Sondern das gesamte Abtreibungsrecht der USA würde auf Bundesebene komplett auf Null zurückgesetzt.
Was bedeutet das?
Sollte der Entwurf zur höchstrichterlichen Entscheidung werden, gibt es dann keine einheitliche föderale Regelung mehr, und damit würde künftig in Fragen der Abtreibung nur noch das gelten, was die einzelnen Bundesstaaten in ihren Gesetzen festschreiben.
Von den 50 Bundesstaaten würden voraussichtlich 26 stärkere Einschränkungen in Bezug auf Abtreibungen einführen. In 13 von diesen Staaten würden vermutlich die bestehenden lebensbejahenden sogenannten bundesstaatlichen „trigger laws“ (deren Anwendung durch die RvW-Entscheidung bislang noch behindert werden) im Falle einer Kassierung dieses Grundsatzurteils unmittelbar greifen und komplette Abtreibungsverbote einführen.
In anderen, abtreibungsfreundlichen Staaten hingegen gäbe es keine Einschränkungen mehr, so dass Abtreibungen sogar noch bis zur Geburt rechtlich ermöglicht würden.
Was spricht juristisch für diesen Schritt?
Auf pro-choice-Seite wird gerne behauptet, dass der Oberste Gerichtshof aus quasi religiösen Gründen entschieden habe, „The Handmaid‘s Tale“ umzusetzen und Frauen zu unterdrücken.
Das ist natürlich völliger Unsinn. Im Prinzip ist die zu erwartende Entscheidung des Supreme Court in juristischer Sicht fast die einzig sinnvolle Entscheidung. Denn als Gericht hat der Supreme Court in den USA nicht die Aufgabe, zu entscheiden, was gute und schlechte Abtreibungsregelungen sind, die wievielte Schwangerschaftswoche eine sinnvolle Grenze für eine Abtreibung ist und ob Abtreibungen im Falle von Vergewaltigungen und Ähnlichem legitim sind.
Sondern er hat ausschließlich zu klären, ob und was die Verfassung zur Frage der Abtreibung sagt, also ob es ein Recht auf Abtreibung in der US-Verfassung gibt – oder eben nicht.
Und das mag für manche überraschend sein: Die hauptsächlich von Christen des 18. Jahrhunderts geschriebene Verfassung sieht explizit kein Recht auf Abtreibung vor.
Also geht es des Weiteren um die Frage, ob ein solches Recht auf Abtreibung vielleicht nicht doch implizit in der US-Verfassung enthalten ist, was die früheren Entscheidungen RvW und PPvCasey behauptet hatten.
Juristisch entscheidend ist daher die Frage, ob diese höchstrichterlichen Entscheidungen gut belegt haben, dass Abtreibungen der Verfassung entsprechen.
Die Argumente des Entwurfs
Wenn man unter diesem Gesichtspunkt den Entwurf liest, wird deutlich, dass er juristisch sauber argumentiert und klug durchdacht ist.
So wird gleich auf Seite 1 festgestellt, dass es während der ersten 185 Jahre der Existenz der USA schlicht den einzelnen Staaten überlassen wurde, Abtreibungen zu verbieten oder zu erlauben – was aber gegen ein verbrieftes Recht auf Abtreibung in der „Constitution of the United States“, der US-Verfassung aus dem Jahr 1787, spricht.
Dann werden deutlich die Fehler der RvW-Entscheidung aus dem Jahr 1973 benannt:
Das Gericht ... behauptete nicht, dass das amerikanische Recht oder das Gewohnheitsrecht [quasi das vor Gründung der USA geltende britisch geprägte Recht] jemals ein solches Recht anerkannt hatte, und sein Überblick über die Geschichte reichte vom verfassungsrechtlich Irrelevanten (z.B. seine Erörterung der Abtreibung in der Antike) bis zum eindeutig Unrichtigen (z.B. seine Behauptung, dass Abtreibung nach dem Gewohnheitsrecht wahrscheinlich nie ein Verbrechen war). Nach der Auflistung einer Fülle anderer Informationen, die keinen Einfluss auf die Bedeutung der Verfassung haben, ...
(Seiten 1 bis 2)
Sprich: die Begründung von RvW enthält offensichtlich laut der Mehrheit der heutigen Verfassungsrichter irrelevante Aussagen sowie falsche Behauptungen.
Und auf Seite 2 heißt es:
Obwohl der Gerichtshof anerkannte, dass die US-Bundesstaaten ein legitimes Interesse am Schutz des ‚potenziellen Lebens‘ haben, stellte er fest, dass dieses Interesse keine Beschränkung von Abtreibungen vor der Lebensfähigkeit rechtfertigen könne. Das Gericht erläuterte die Grundlage für diese Linie nicht, und selbst Abtreibungsbefürworter haben sich schwer getan, die Argumentation von Roe zu verteidigen.>
Sprich: Die RvW-Entscheidung legte mit der „viability“ (Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibes) eine Grenze fest, ohne zu begründen, wie sich diese aus der US-Verfassung ergeben solle.
Das alleine ist eigentlich schon juristisch völlig ausreichend, um die RvW-Entscheidung zu ersetzen oder abzuändern. Denn wenn das höchste US-Gericht etwas aus der US-Verfassung ableitet, muss es dies näher begründen.
Das ist keineswegs nur die Meinung von „Pro-Life“-Juristen, was man daran erkennt, dass auf Seite 2 ein Jurist zitiert wird, der politisch für eine Abtreibungsfreigabe entsprechend RvW wäre, der aber explizit feststellte: „Roe was ‚not constitutional law‘“, also: die RvW-Entscheidung stellte kein Verfassungsrecht dar und ist demnach juristisch völlig unhaltbar.
Und die spätere PPvCasey-Entscheidung hat nicht einmal versucht, die ernsthaften juristischen Fehler von RvW zu korrigieren, sondern einfach die Behauptung aufgestellt, dass man die in RvW juristisch völlig unbegründete „viability“-Grenze niemals umwerfen dürfe, sogar dann nicht, wenn sie falsch wäre („even if that holding was wrong“) (Seite 3).
Das ist aus juristischer Sicht natürlich katastrophal! Man soll ein Todesurteil aufrechterhalten, auch wenn es falsch war?
Die eigentliche Intention und der beabsichtigte Zweck von PPvCasey war nicht, die Begründungsfehler von RvW bei dem quasi aus der Luft gezauberten statt auf der US-Verfassung fußenden angeblichen Recht auf Abtreibung zu beheben. Es ging vielmehr darum, mittels eines Machtwortes die Debatte zu beenden: Roe stellte kein Verfassungsrecht dar, vielmehr riefen „die drei Richter, die das Gutachten der Mehrheitsmeinung verfassten, ‚die streitenden Seiten einer nationalen Kontroverse dazu auf, ihre nationale Spaltung zu beenden‘, indem sie die Entscheidung des Gerichts als die endgültige Lösung der Frage des Verfassungsrechts zur Abtreibung erklärten.“ (Seite 4)
Sprich: der Supreme Court hatte mit der RvW-Entscheidung verfassungsrechtlichen Müll produziert. Und PPvCasey hatte diesen Fehler nicht repariert, sondern noch weiteren Müll draufgepackt. Und das sollte den Rechtsfrieden wiederherstellen?
Politisch hat RvW nichts geklärt
Es hat aber offensichtlich nicht funktioniert mit der Wiederherstellung des Rechtsfriedens, denn noch im Jahre 2016 hat Trump mutmaßlich etliche Wählerstimmen gewonnen, als er im letzten Rededuell Clinton hart angriff und ihr vorwarf, letztlich dafür zu sein, Babys noch bis kurz vor der Geburt zu zerstückeln:
Basierend auf dem, was sie sagt, und basierend darauf, worauf sie anspielt und was sie gesagt hat", fügte er hinzu, "kann man ein Baby nehmen und es im neunten Monat, am letzten Tag, aus dem Mutterleib reißen. Das ist nicht akzeptabel."
„Clinton condemns Trump's abortion 'scare rhetoric' in debate question“ auf The Guardian vom 20.10.2016
Trotz gegenteiliger Wahlprognosen hat Trump bei konservativen Frauen und Evangelikalen gewonnen. Abtreibung könnte dabei ein wichtiger Faktor gewesen sein.
„Why Christians Overwhelmingly Backed Trump“ auf The Atlantic vom 9.11.2016
Trump gewann gegen Clinton mit einem extrem knappen Vorsprung. Wenn eine Präsidentschaftswahl aber vermutlich erheblich durch das Thema „Baby […] im neunten Monat [… ] aus dem Mutterleib reißen“ entschieden wurde, ist eine auf Befriedung abzielende Entscheidung von 1991 offensichtlich völlig daneben gegangen.
Es bleibt somit nichts, was von RvW und PPvCasey juristisch zu retten wäre, denn sie befrieden den harten Abtreibungsstreit in der Gesellschaft keineswegs.
Die übrigen weit über 50 Seiten des Entwurfs begründen dies im Detail – und zwar, soweit ich sehen kann, ohne offensichtliche Fehler.
Besonders gelungen ist meiner Ansicht nach die Erklärung, warum die Lebensfähigkeits-Grenze („viability“) nicht nur in der RvW-Entscheidung verfassungsrechtlich völlig unbegründet bleibt, sondern auch die Grenze an sich völlig willkürlich ist:
Und wenn die Lebensfähigkeit eine Grenze mit universeller moralischer Bedeutung markieren soll, kann es dann sein, dass ein Fötus, der in einer Großstadt in den Vereinigten Staaten lebensfähig ist, einen privilegierten moralischen Status hat, den ein identischer Fötus in einer abgelegenen Gegend eines armen Landes nicht genießt?
(1. Abs. Seite 49; vgl. Seite 46-49)
Wie der Entwurf von Pro-Choice wahrgenommen wird
Für die Abtreibungsbefürworter (pro-choicer) ist das geradezu wie ein Feuerregen, der vom Himmel fällt. Seit Jahrzehnten beriefen sie sich in den USA und mit Verweis auf die USA auch oft in anderen Ländern auf ein angeblich in der US-Verfassung verankertes „Recht auf Abtreibung“.
Das wird nun aber voraussichtlich demnächst vollständig weggefegt und so vollständig zerstört werden, dass nicht einmal mehr Ruinen davon übrig bleiben.
Deshalb ist das obige Bild eine sehr zutreffende Darstellung, wie heute die Welt für pro-choicer aussieht. Und sie sagen das sogar selbst so, wie sich aus dem Transkript eines Gesprächs von Chris Hayes, Fernsehmoderator beim progressiven Sender MSMBC, mit Irin Carmon, der Autorin einer Autobiografie der verstorbenen Pro-Choice-Richterin Bader-Ginsburg, ergibt (viert- und fünftletzter Absatz):
HAYES: ... Der Wolf ist an der Tür, und sie werden Roe kippen.
CARMON: Der Himmel ist eingestürzt.