Ein gestaffeltes Lebensrecht?

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Wenn Abtreibungsbefürworter begründen wollen, wieso Abtreibung gut für Frauen oder wenigstens erlaubt sein sollte, kommt unweigerlich das „Zellklumpen“-Argument: Es sei doch nur Schwangerschaftsgewebe, Embryonen – noch am Anfang ihrer Entwicklung, sie können noch nicht einmal denken, sind nicht selbstständig lebensfähig. 2

Wenn man nun, was meistens nicht getan wird, versuchen würde, auf diesen Grundlagen der Pro-Choice-Seite (wie die Abtreibungsbefürworter auch genannt werden) ein konsequentes, in sich geschlossenes System der Ethik aufzubauen, würde das in etwa so aussehen:

Es haben nicht alle unschuldigen Menschen dasselbe Recht, nicht von anderen getötet zu werden, sondern es gibt ein gestaffeltes Lebensrecht:

  • Wer intelligenter ist, hat ein größeres Lebensrecht
  • Wer bei Bewusstsein ist, hat ein größeres Lebensrecht als jemand, der nicht bei Bewusstsein ist
  • Wer älter/größer/weiter entwickelt ist, hat ein größeres Lebensrecht
  • Wer unabhängiger und gesünder ist, hat ein größeres Lebensrecht als jemand, der stärker auf Hilfe angewiesen ist

Man könnte ein Punkesystem entwickeln, um z. B. abzugrenzen, wie eine kleinwüchsige Zehnjährige, ein starker und gesunder Dreißigjähriger mit einem IQ von 69, eine fünfundsechzigjährige Komapatientin, ein völlig gesunder Einjähriger, ein Zwanzigjähriger mit Downsyndrom abschneiden – wer verdient mehr, wer weniger Schutz vor Tötung? Wessen Tötung soll man erlauben, wenn ein anderer auf sein Selbstbestimmungsrecht pocht, das ihm erlaube, diesen jeweiligen Menschen zu töten, dessen Weiterleben ihn oder sie einschränkt oder belastet?

Soll die Tötung des einen vielleicht aus schwerwiegenden Gründen erlaubt sein, die eines anderen schon aus geringfügigeren, und wo zieht man die Grenze, wo sie grundsätzlich zum Verbrechen wird? Fallen auch nach dieser Grenze die Strafen für Tötungen noch unterschiedlich hoch aus nach dem Punktestand des Opfers? In welchem Fall geht das Lebensrecht des einen, in welchem Fall das Selbstbestimmungsrecht des anderen vor?

Das klingt ebenso grausig wie absurd

Aber es ergibt sich vollkommen logisch aus den Prämissen von Befürwortern der Abtreibung. Und natürlich ist es vollkommen falsch.

Man kann Menschenwürde nicht an bestimmten Fähigkeiten festmachen, die manche Menschen in größerem Ausmaß, und manche in geringerem haben. Im Menschen ist die Fähigkeit zu Intelligenz, Bewusstsein usw. angelegt, aber manchmal ist ihre Ausübung gehemmt – durch ein noch nicht weit genug entwickeltes Gehirn, durch vorübergehende Ruhezustände (Schlaf, Bewusstlosigkeit, Narkose), durch ein krankhaft verändertes Gehirn, durch ein altes und erschöpftes Gehirn usw. –, aber diese Hemmnisse machen einen Menschen eben nicht zum Nicht-Menschen. Man wird kein Nicht-Mensch, wenn man einschläft, ins Koma fällt, sich eine Schädigung des Gehirns zuzieht; man ist und bleibt ein Mensch.

Ein Mensch entwickelt sich als Mensch, nicht zum Menschen

Und genauso sieht es mit der frühen Entwicklung aus: Sobald der eine zentrale Schritt getan ist – die Vereinigung von Ei- und Samenzelle, durch die ein neues Lebewesen entsteht mit seiner kompletten DNA und allen Merkmalen von Leben, wie Homöostase, Wachstum, Reaktion auf Umwelteinflüsse – muss der Embryo nur noch in die richtige Umgebung gelangen, wachsen und sich entwickeln. (Und er entwickelt sich schnell: Ab dem 22. Tag beginnt das Herz zu schlagen.)

Ein Embryo wird nicht an einem magischen Zeitpunkt – nach drei Monaten oder bei der Geburt oder wann auch immer – vom Nicht-Menschen zum Menschen. Die Vereinigung von Ei- und Samenzelle ist der einzige Zeitpunkt, ab dem es nur noch eine Entwicklung dieses selben bleibenden Wesens. Diese läuft auch nach der Geburt weiter, dass das Kind größer wird, ihm Haare wachsen, es lernt, zu sprechen und zu laufen, usw.

Das Lebensrecht an der Lebensfähigkeit festzumachen, ist noch absurder, als Bewusstsein oder Intelligenz heranzuziehen. Damit sagt man: Je hilfloser ein Mensch ist, desto eher darf man seine Hilflosigkeit ausnutzen und ihn töten – ein „Recht des Stärkeren“. Selbstständig „lebensfähig“ zu sein ist nicht dasselbe wie „lebendig“ zu sein. Auch ein Säugling ist nicht selbstständig lebensfähig ohne jemanden, der ihn füttert, wickelt, wärmt. Ein fünfjähriges Kind ist nicht selbstständig lebensfähig. Selbst viele Erwachsene wären wahrscheinlich nicht selbstständig lebensfähig, wenn sie plötzlich in einer Wildnis ohne jeden anderen Menschen stranden würden.

Und speziell bei ungeborenen Kindern verschiebt sich der Zeitpunkt, ab dem sie außerhalb des Mutterleibs im Brutkasten überleben können, also zwar noch auf andere angewiesen sind, aber nicht mehr direkt auf die Verbindung mit dem Körper eines anderen Menschen, langsam immer weiter nach vorn. Man könnte auch auf siamesische Zwillinge verweisen, die ihr Leben lang auf die Verbindung mit dem Körper ihres Zwillings angewiesen sind, weil sie einige von dessen Organen teilen: Niemand würde sagen, ein siamesischer Zwilling hätte kein Lebensrecht und sein Zwilling – der vielleicht eine Trennung überleben würde, während der andere das nicht könnte – dürfte ihn töten lassen.

Man kann das Lebensrecht eines Menschen nicht an seinen Merkmalen – seinen Fähigkeiten, seinem Entwicklungsstand, seiner Unabhängigkeit – festmachen; er ist seinem Wesen nach Mensch.

Wenn man einmal anfängt, Menschlichkeit und Lebensrecht nur bestimmten Menschengruppen zuzugestehen – wer sagt, wo genau es aufhören wird?


  1. Ironischerweise bestehen nur Lebewesen aus Zellen und diese speziellen Lebewesen haben in jeder ihrer Zellen eine vollständige menschliche DNA; die Beschimpfung (Diffamierung als) „Zellklumpen“ ist also eher schlecht gewählt, wenn man es genau bedenkt. Außerdem wird eine Schwangerschaft normalerweise erst bemerkt und eine Abtreibung durchgeführt, wenn das Kind auch keine „Klumpenform“ mehr hat, sondern bereits fertig ausgebildete Arme, Beine, Finger, Zehen und ein schlagendes Herz. Aber das nur am Rande. 

Posted in Philosophie on Feb 21, 2021

von: Julia Fischer
veröffentlicht am 21.02.2021
unter Philosophie

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