Die Grünen und das Grundgesetz – Viele Widersprüche in sich.

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Am 26. Juni haben Annalena Baerbock, Robert Habeck und Michael Kellner den ersten Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der Partei Bündnis 90/ Die Grünen vorgestellt. Anlass genug, dieses Papier mal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und unter dem Blickwinkel des Lebensschutzes ungeborener Kinder zu bewerten.

So heißt es beispielsweise in der Präambel:

„Ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen, heute wie übermorgen, überall auf diesem Planeten, den wir gemeinsam bewohnen, ist unser Ziel.“

Oder auch unter der Überschrift „DIE WERTE, DIE UNS EINEN“, dem eigentlichen Kernstück des Grundsatzprogramms:

„Jeder Mensch ist einzigartig und frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Hier zitieren die Grünen Artikel 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wobei für die Grünen hier wohl, wie sich später noch zeigen wird, insbesondere das Wort „geboren“ von Bedeutung zu sein scheint.

In den nächsten Punkten geht es zunächst jedoch weiter um die große Wichtigkeit Menschenwürde, sowie der Menschen- und Bürgerrechte:

Punkt 26: „Menschen begegnen sich als Gleiche – in ihren Rechten und ihrer Würde. Selbst über das eigene Leben bestimmen zu können, macht die Würde und Freiheit eines Menschen aus.“

Punkt 29: „Jeder Mensch verdient Wertschätzung und Anerkennung für seine individuellen Lebensentscheidungen, solange sie nicht zulasten Dritter gehen.“

Punkt 30: „Freiheit bedeutet Verantwortung für sich selbst und für andere. Sie fordert Individuen und Gesellschaft heraus. Sie verlangt uns allen etwas ab. Freiheit und Selbstbestimmung finden ihre Grenze dort, wo durch sie anderen Menschen und zukünftigen Generationen Freiheit und Selbstbestimmung genommen werden“

Punkt 32: „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie haben eigene Rechte auf Förderung ihrer Entwicklung, auf Schutz, Teilhabe und Bildung. Selbstbestimmung ist nur möglich, wenn allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen gegeben werden.“

Punkt 46: „Würde, Freiheit und Gleichheit ergeben sich aus der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte. Die verbrieften Menschenrechte sind nicht verhandelbar – weder gegenübermachtpolitischen oder wirtschaftlichen Interessen noch gegenüber einem kulturellen Relativismus. Die Würde jedes Menschen ist unantastbar.“

Unantastbare und nicht verhandelbare Menschenwürde, gleiche Chancen und Rechte für alle Kinder, Verantwortung für sich und andere übernehmen, Selbstbestimmung, die ihre Grenzen dort findet, wo sie zu Lasten Dritter geht. Klingt eigentlich alles ziemlich vernünftig und dürfte wohl in weiten Teilen der Bevölkerung auf wenig Widerspruch stoßen.

Liest man das Programm weiter, findet sich, nach zahlreichen Punkten zu Themen wie Klima-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik, ein weiteres Unterkapitel mit der Überschrift „Bioethik“. Hier heißt es im ersten Punkt:

Punkt 156: „Eingriffe in die menschliche Keimbahn sollen ausgeschlossen und der strenge Embryonenschutz soll beibehalten werden.“

Die Grünen setzen sich also nicht nur für die Wahrung der Menschenwürde und des Schutzes aller geborenen Menschen ein, sondern fordern auch eine Beibehaltung des strengen Embryonenschutzes, zumindest dann, wenn es etwa um Eingriffe in die Keimbahn oder das Klonen von Menschen geht.

Ganz anders scheinen die Grünen die Themen Menschenwürde, Grundrechte, Grenzen der Selbstbestimmung und Embryonenschutz allerdings dann zu bewerten, wenn es um das Thema Abtreibung geht. Hier heißt es unter der Überschrift „Feminismus und Geschlechtergleichstellung“:

Punkt 195: „Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben muss für Frauen und Mädchen uneingeschränkt gelten. Dieses Recht zu realisieren ist Teil einer guten Gesundheitsversorgung. Schwangerschaftsabbrüche haben nichts im Strafgesetzbuch verloren.“

Da steht es nun. Die von Abtreibungsbefürwortern immer wieder geäußerte Forderung, Abtreibungen vollständig aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, ist nun offizielle Parteilinie der Grünen. Stellt sich die Frage, wie sich diese Position mit den zuvor geäußerten Bekenntnissen zum Schutz der grundgesetzlich verbrieften Menschenwürde, dem Schutz Dritter vor individuellen Lebensentscheidungen anderer und dem Embryonenschutz in Einklang bringen lassen soll.

Hierzu sollte man zunächst einen Blick in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes, den die Grünen ja bereits im Titel ihres Grundsatzprogramms zitieren, werfen:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

In Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es weiter:

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

Nun könnten die Grünen versuchen, den offensichtlichen Widerspruch zwischen den in Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verbrieften Rechten und ihrer Forderung, Abtreibungen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, mit einem Verweis auf die von ihnen zitierte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, nach der jeder Mensch „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ sei, aufzulösen. Mit dieser Argumentation scheitern sie allerdings spätestens daran, dass sich das Bundesverfassungsgericht sich bereits mit dieser Frage beschäftigt hat und zu einem eindeutigen Urteil gekommen ist.

So heißt es in den Leitsätzen des Urteils BVerfGE 88, 203 - Schwangerschaftsabbruch II aus dem Jahr 1992:

  1. Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Diese Schutzpflicht hat ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. Die Rechtsordnung muß die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleisten. Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet.

  2. Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein.

  3. Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen. Das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes sind zwei untrennbar verbundene Elemente des verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes.

  4. Der Schwangerschaftsabbruch muß für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein (Bestätigung von BVerfGE 39, 1 [44]). Das Lebensrecht des Ungeborenen darf nicht, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung eines Dritten, und sei es selbst der Mutter, überantwortet werden“.

In der Begründung des Urteils wird die Frage nach der Menschenwürde des ungeborenen Kindes noch einmal ausführlicher beantwortet (sh. Fußnote).

Unabhängig davon, dass in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Wort „geboren“ auftaucht, schützt das Grundgesetz eben nicht nur geborene Menschen, sondern auch ungeborene Menschen und zwar spätestens ab dem Moment der Einnistung in der Gebärmutter. Die Forderung der Grünen, Abtreibungen zu entkriminalisieren lässt sich folglich mit dem Grundgesetz nicht vereinbaren.

Ein uneingeschränktes Recht auf Abtreibung, wie es die Grünen in ihrem Grundsatzprogramm explizit fordern, würde bedeuten, dass eine Schwangere, egal aus welchen Gründen und egal zu welchem Zeitpunkt in der Schwangerschaft, ein Recht dazu hat, ihr ungeborenes Kind zu töten oder durch einen Arzt töten zu lassen. Abgesehen von der offensichtlichen Grundgesetzwidrigkeit einer solch umfassenden Legalisierung von Abtreibung, dürfte wohl auch eine große Mehrheit der Bevölkerung eine derart extreme Regelung ablehnen.

Man darf daher gespannt sein, ob diese extreme Forderung der Grünen ein großes mediales Echo hervorrufen wird und und wie sie den Widerspruch zwischen ihrer Forderung und dem Grundgesetz rechtfertigen wollen.


„Jedenfalls in der so bestimmten Zeit der Schwangerschaft handelt es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt (vgl. BVerfGE 39, 1 [37]). Wie immer die verschiedenen Phasen des vorgeburtlichen Lebensprozesses unter biologischen, philosophischen, auch theologischen Gesichtspunkten gedeutet werden mögen und in der Geschichte beurteilt worden sind, es handelt sich jedenfalls um unabdingbare Stufen der Entwicklung eines individuellen Menschseins. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu (vgl. BVerfGE 39, 1 [41]). Diese Würde des Menschseins liegt auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen. Es zu achten und zu schützen bedingt, daß die Rechtsordnung die rechtlichen Voraussetzungen seiner Entfaltung im Sinne eines eigenen Lebensrechts des Ungeborenen gewährleistet (vgl. auch BVerfGE 39, 1 [37]). Dieses Lebensrecht, das nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet wird, sondern dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zusteht, ist das elementare und unveräußerliche Recht, das von der Würde des Menschen ausgeht; es gilt unabhängig von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen, über die der Rechtsordnung eines religiös-weltanschaulich neutralen Staates kein Urteil zusteht.“

Posted in Aktuelles on Jul 14, 2020

von: anonym
veröffentlicht am 14.07.2020
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